Die „Fortschaffende Mechanik“ und „Eiserne Kunststraßen“
Den Anstoß, sich mit dem Thema Eisenbahn zu befassen, gab der Akademie ihr langjähriges Mitglied, der Oberstbergrat und Maschinendirektor Joseph von Baader. 1763 in München geboren, war Baader an sich in Ingolstadt promovierter Mediziner, hatte sich aber nach dem Studium in England und Schottland mehrere Jahre zum Ingenieur fortgebildet. 1793 kehrte er nach München zurück, um dort, gestützt auf seine Erfahrungen im Ausland, eine steile Karriere als Techniker im bayerischen Bergwesen zu machen. Erst 33-jährig nahm ihn die Akademie in die Reihen ihrer ordentlichen Mitglieder auf; von 1807 bis 1817 leitete er ihr „Polytechnisches Kabinett“, das seinerzeit eine entscheidende Rolle im Patentverfahren
des Königreiches spielte.
Der Englandkenner Baader sorgte für so manchen technologischen Transfer von den britischen Inseln auf den Kontinent. Davon war langfristig am bedeutsamsten sein Engagement für den Bau von Eisenbahnen, die er als effektives Transportmittel in den Bergwerken und Kohlegruben jenseits des Kanals kennen gelernt hatte. Baaders entscheidende Innovationsleistung auf diesem Sektor bestand in der Idee, die Eisenbahntechnik für den öffentlichen Verkehr zu nutzen, was damals noch nicht einmal in England praktiziert wurde – die erste Eisenbahn mit öffentlichem Personenverkehr nahm erst 1825, zwischen Stockton und Darlington, ihren Betrieb auf.
Bereits zehn Jahre früher, nicht zufällig zu einem Zeitpunkt, wo sich nach der Niederringung Napoleons die politische Lage in Europa allmählich beruhigte und man wieder nach vorne schauen konnte, trat Baader in München mit ausgearbeiteten Plänen zum Eisenbahnbau auf. Kennzeichnend war dabei der systematische Ansatz, mit dem er sich dem Thema näherte und den er zu einem regelrechten „Neuen System der fortschaffenden Mechanik“ ausbaute. Weit entfernt davon, lediglich englische Technik zu kopieren, ging es Baader darum, zunächst alle Möglichkeiten der Rad-Schiene-Technologie auszuloten und dann auf einen Einsatz im Agrarland Bayern hin zu optimieren. Letzteres bedeutete vor allem den Verzicht auf aufwändigen und rohstoffintensiven Dampfbetrieb zugunsten einer verbesserten Pferdetraktion. Als alternative Antriebsenergie beschäftigte Baader insbesondere die menschliche Muskelkraft, für die er Anwendungsmöglichkeiten übrigens nicht nur auf der Schiene, sondern auch auf dem Wasser (Tretboot) und auf der Straße (Laufrad) ersann.
Mit einem Patentantrag für die von ihm dergestalt fortentwickelten „eisernen Kunststraßen“ löste Baader im Jahr 1815 eine erste Serie von Gutachten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften aus. Von den drei mit der Prüfung beauftragten Physikern und Mathematikern zog sich Anselm Ellinger (1758–1816) auf einen mathematisch- physikalischen Standpunkt zurück und anerkannte Funktionsfähigkeit und Neuheit
der Erfindung. Für die Frage der praktischen Tauglichkeit erklärte er sich nicht zuständig, vermutete aber, Eisenbahnen würden wohl nur „anwendbar seyn in dazu geeigneten einzelnen Districten“. Maximus von Imhof (1758–1817) schloss sich dem weitgehend an, verwies auf manche Umständlichkeiten in Baaders technischer Konzeption, empfahl jedoch, „die für den Handel gewies folgenreiche Idee“ in jedem Fall weiterhin zu fördern. Geradezu vernichtend war indes das Gutachten Julius Konrad von Yelins (1771–1826), in dem sich die Haltung einer eisenbahnkritischen Fraktion innerhalb der Akademie niederschlug. Sie vermochte an der Eisenbahn nur die Nachteile zu erkennen, bemängelte zahlreiche mechanische Unausgereiftheiten und verwies – obwohl „über die Kostspieligkeit … direkt nicht gefragt“ – auf die hohen Anlagekosten. Diesen durchaus skeptisch gestimmten Voten zum Trotz wurde Baader das beantragte Patent, ein „ausschließendes Privilegium auf den
Zeitraum von zwanzig und fünf Jahren“, erteilt; die erhoffte einheitliche Haltung der Akademie war freilich nicht zu Stande gekommen. Über viele Jahre hinweg versuchte Baader dennoch, weiterhin Überzeugungsarbeit für seine Sache zu leisten. Neben Akademievorträgen schien ihm dafür die praktische Demonstration am erfolgversprechendsten, und so erstellte er nach und nach Eisenbahnmodelle und Versuchsbahnen in immer größer werdendem Maßstab.
Pionier der Eisenbahn: Joseph von Baader (1763–1835). Porträt von Gustav Nehrlich, 1831.
1825 glaubte sich Baader am Ziel. Für den lange angestrebten Großversuch im Maßstab 1:1, vordem – wie er meinte – alle Kritiker verstummen müssten, wurden stattliche 8.000 Gulden aus Staatsmitteln bereitgestellt. Im Nymphenburger Schlosspark, in der Nähe des Grünen Brunnhauses entstand eine rund 250 Meter lange Versuchsstrecke auf der alle denkbaren Transportsituationen simuliert werden konnten: Berg- und Talfahrt, enge Kurven, Übergang von der Schiene auf die Straße, Bahnübergänge u. a. m.
Nicht weniger als drei Expertenkommissionen wurden aufgeboten, um diese erste lebensgroße Eisenbahn in Bayern zu begutachten. Ein Gremium, geleitet von Hofbauintendant Leo von Klenze, bestand aus Vertretern der betroffenen Fachbehörden, ein zweites war aus maßgeblichen Mitgliedern des Polytechnischen und des Landwirtschaftlichen Vereins gebildet. Die kleine, von der Akademie der Wissenschaften nach Nymphenburg entsandte Kommission umfasste den Botaniker Franz von Schrank (1747–1835) sowie die beiden Mathematiker Thaddäus Siber (1774–1854) und Johann Leonhard Späth (1759–1842). Am 3. Juli 1826 ließen sich die drei Akademievertreter in Nymphenburg das ausgeklügelte Versuchsprogramm vorführen. In dem darüber aufgesetzten ausführlichen Protokoll spendete die Kommission, deren Zusammensetzung Baader freilich in seinem Sinne zu beeinflussen gewusst hatte, dem Gesehenen diesmal „vollen Beifall“, wenngleich man sich nach wie vor „über die Anwendbarkeit dieser Construction im Grossen“ nicht äußern wollte. Noch im gleichen Jahr gab die Akademie dieses Gutachten als Anhang zu einer weiteren akademischen Festrede Baaders in hoher Auflage in Druck. Irgendeine fördernde Wirkung im Hinblick auf den Eisenbahnbau war ihm jedoch nicht beschieden. Das vorangegangene vernichtende Urteil der Behördenvertreter, Eisenbahnen könnten „in kommerzieller Hinsicht überhaupt nur in besonderen Fällen, nie aber im Allgemeinen Vortheil gewähren“, wog gegenüber den technologisch-mechanischen Bewertungen der Gelehrtenschaft zu schwer. Vor allem aber hatte sich der technologiepolitische“ Wind in Bayern mit der Thronbesteigung Ludwigs I. im Jahr 1825 gedreht. Ludwig bezog in seine monarchischen Vorstellungen auch die verkehrstechnische Erschließung des Königreichs ein, das er würdiger durch – vermeintlich die Jahrhunderte überdauernde – Schifffahrtskanäle repräsentiert sah. Der Staat schied damit in Bayern als Impulsgeber für den frühen Eisenbahnbau aus.
Die Genialität dieser Entwürfe besteht darin, dass Baader alle Probleme genau erkannte und genial umzusetzen wusste: er gab seinen Wagen zwei Laufradsysteme, damit ein Wagen zum einen auf der Straße fahren konnte und zum anderen ohne Umbauten direkt auf Schienen weiterfahren konnte. Steigungen wollte er mit Seilzügen bewältigen. Das Zweiweg-Fahrzeug war erfunden.
Auch die „Rollende Landstraße“ nahm Baader schon sehr früh vorweg: Lastkarren werden auf fahrbare Untergestelle gesetzt.
Abbildungen: Sammlung Dr. Scheingraber
Alternativ konstruierte er kleine Schemelwagen, auf die Fuhrwerke zum besseren und schnelleren Transport geladen werden konnten, – die rollende Landstraße lag vor 200 Jahren schon in der Schublade. Joseph von Baader war seiner Zeit voraus.
Ungenutzt blieben dadurch jedoch auch die Chancen einer regional eigenständigen Technologieentwicklung. Die beiden Lokomotiven, die seit Dezember 1835 so eindrucksvoll zwischen Nürnberg und Fürth hin und her dampften, waren Komplettimporte aus England – zylindertragender Lokomotivführer inklusive. Ökonomisch war das zweifellos sinnvoll gehandelt. Was dabei aber zunächst an technischen Ideen verlorenging, zeigt ein nochmaliger Blick in Baaders „Neues System der fortschaffenden Mechanik“ aus dem Jahr 1822: Die erst viel später etwa im Bergbau eingesetzte Druckluftlokomotive oder die Feldbahn für den Forstbetrieb zur Reduzierung der großen Holzverluste des herkömmlichen Triftverfahrens findet man dort ebenso vorgedacht wie die erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts wiederentdeckte „Rollende Landstraße“. Baader selbst durfte übrigens nicht einmal die Realisation seiner Grundidee des schienengebundenen Verkehrs erleben: Zwei Wochen vor der Eröffnungsfahrt in Nürnberg ist Bayerns Eisenbahnpionier am 20. November 1835 gestorben.
Text: Dr. Stephan Deutinger
Die Baaderstraße in München: Sie wurde 1878 nicht nach Joseph von Baader, um den es in diesem Artikel geht, benannt, sondern nach dem katholischen Theologen und Philosophen Franz von Baader. Aufnahme: 1929.
Quellen Bilder/Texte & Copyright:
Polytechnisches Journal 1822, Band 7, Nr. I. (S. 1–52)
Dr. Stephan Deutinger
Sammlung Dr. Scheingraber
Bibliothek Deutsches Museum 13.Mai 1814 „Eiserne Kunststraßen“ Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen