Die M-Wagen Typ Entwicklung
Die Prototypen
Obwohl die Perspektiven des politischen wie wirtschaftlichen Wiederaufbaus kurz nach dem Krieg keineswegs vorhersehbar waren, nahmen die Verkehrsbetriebe unter der Regie des späteren Werkdirektors Dr.-Ing. Julius Ulsamer bereits im Frühjahr 1946 die Entwicklung eines modernen Straßenbahnwagens auf. Eine Stadt von der Größenordnung Münchens stellte eine Reihe von Anforderungen, die ein neuzeitlicher Straßenbahnwagen erfüllen mußte. Dr. Ulsamer schrieb diese wie folgt fest:
- Zur Erreichung eines gleichmäßigen, ungestörten und schnellen Fahrgastwechsels ist es notwendig, Ein- und Ausstieg zu trennen. Der Fahrgast muß sich im Wagen möglichst ungestört von Gegenbewegungen auf kürzestem Weg von Einstieg zu Ausstieg bewegen können, um Aufenthalte an den Haltestellen möglichst kurz halten zu können.
- Da auf Zugbildung nicht verzichtet werden kann, müssen Trieb- und Beiwagen zum Zwecke gleichmäßiger Fahrgastverteilung und kürzester Fahrgastwechselzeiten gleichmäßig gestaltet werden.
- Es muß für die Zeiten außerhalb des Spitzenverkehrs die Abfertigung des Fahrgasts durch einen sitzenden Schaffner möglich sein.
- Die Größe des Fahrgastraums je Wagen muß bei normaler Besetzung für etwa 100 Personen bemessen sein (sog. Großraumwagen).
- Der Fahrer muß durch leicht bewegliche Trennwände von der Plattform abgeschlossen sein und durch einen Sitz vor Ermüdung geschützt werden.
- Betriebstechnisch muß ein optimaler Betriebswert des Fahrzeugs gefordert werden, da bei der verhältnismäßig langen Lebensdauer die Unterhaltungskosten maßgeblich in Erscheinung treten.
- Um Lager- und Ersatzteilhaltung, Montage, Hilfs- und Wartungsvor- und -einrichtungen auf kleinstem Umfang zu halten, müssen Trieb- und Beiwagen möglichst völlig gleiche Bauelemente aufweisen.
- Im Verkehr erfahrungsgemäß besonders gefährdete Elemente müssen in kurzer Zeit ausgetauscht werden können.
- Vom Sicherheitsstandpunkt aus müssen mindestens zwei voneinander unabhängig wirkende Bremssysteme vorhanden sein.
Dr. Ulsamer griff zeitgenössische Konzeptionen für die Konstruktion des neu zu entwickelnden Fahrzeugs auf. So waren Großraumwagen in der vom Krieg verschonten Schweiz bereits eingeführt. Auch die Verwandtschaft zum sog. „Einheitsstraßenbahnwagen“, der in den Vorkriegsjahren im Deutschen Reich entwickelt worden war, kann der M-Wagen nicht verleugnen. So ist beispielsweise der Plattformgrundriss beider Fahrzeuge identisch.
Vom projektierten Großraumtriebwagen des Typs „München“ wurde bereits im Jahre 1948 eine Holzattrappe im Maßstab 1:1 angefertigt. Heute spräche man wohl von einem „Mock-Up“. Die äußere Gestaltung des neuen Fahrzeugtyps erinnert noch etwas an den „deutschen Einheitswagen“, der von der deutschen Waggonbauindustrie vor dem Kriege entwickelt worden war, aber nie in Serie ging. Das Phantom mit der fiktiven Wagennummer „302“ steht am 11.3.48 im Werk der Herstellerfirma Rathgeber AG
Ein Holzmodell vermittelte einen anschaulichen Eindruck des neuen Münchner Großraumzugs.
Besonderer Wert wurde auf niedrige Bodenhöhe gelegt; mit einem Durchmesser der Treibräder von 760 Millimetern wurde eine Trittstufenhöhe von 830 Millimetern zwischen Schienenoberkante und Fußbodenoberkante erreicht. Grundsätzlich kannte man Ende der 40er Jahre drei mögliche Anordnungen für das Laufwerk eines Straßenbahnwagens:
- starres, zweiachsiges Untergestell
- dreiachsiges Laufwerk mit zwei Lenkgestellen und steuernder mittlerer Lenkachse
- vierachsiges Laufwerk mit zwei Drehgestellen
Die zweiachsige Bauart schied von vornherein aus, da wegen der besonders engen Münchner Gleisradien, die bis zu zwölf Metern hinab reichten, der Radstand so gering sein musste – er durfte drei Meter nicht überschreiten – dass ein ausreichend großer Wagenkasten nicht mehr aufgesetzt werden konnte. Gegenüber vierachsigen Drehgestellaufwerken erwies sich der Lenkdreiachser bei gleicher Leistungsfähigkeit als leichter und kostengünstiger. Zudem war der Gesichtspunkt des geringeren Anschneidwinkels in der Kurve und die damit geringere Abnutzung von Rad und Schiene maßgebend. Außerdem ergibt das günstige Verhältnis zwischen Reibungsgewicht und Zugkraft beim dreiachsigen Laufwerk ein optimales Ergebnis bei der Kombination von Trieb- und Beiwagen. Dazu kommt der besondere betriebswirtschaftliche Vorteil gleicher Ausrüstung von Trieb- und Beiwagen bei geringstem Aufwand für den Großraumbeiwagen. Die gewählte Gesamtauslegung des M-Wagens mit der Wagenkastenlänge von 13,25 Metern trifft die optimalen Verhältnisse für das dreiachsige Laufwerk, das hier einen Drehzapfenabstand von 6,2 Metern erreichen ließ. Bei größeren Wagenlängen wäre eine Ausstattung mit Drehgestellaufwerken notwendig gewesen. Die Funktion des dreiachsigen Laufwerks ist in den Grundsätzen folgende: Die steuernde Mittelachse stellt in der Kurve die beiden tragenden Lenkgestelle über die beiden Deichseln in die richtige Lage. In der Geradeausfahrt wirkt sie als Schlingerbremse.
Der Rohbau des Wagenkastens lässt deutlich die Form des neuen Großraumwagens erkennen.
Der Einstiegsraum an den beiden Mitteltüren. Genau gegenüber befindet sich der Schaffnersitz.
Der Führerstand des M1-Triebwagens 764. Die Ausstattung ist zwar sehr spartanisch, aber immerhin läßt sich die Fahrerkanzel mit einer zweiflügeligen Tür vollständig vom Fahrgastraum abtrennen. Die Fahrplanuhr am Armaturenbrett liegt gut im Blickfeld des Wagenführers. Bei Anlieferung besitzen die M1-Triebwagen noch einen Kurbelfahrschalter.
Erstmals erhält der Schaffner einen eigenen erhöhten Sitz, an welchem die zahlenden Passagiere vorbeigehen müssen.
Mit den ab 2.1.50 ausgelieferten Zügen des Typs M 1.62/m 1.62 wurde ein neuer Abschnitt in der Entwicklung des Wagenparks der Münchner Straßenbahn eingeleitet. Im Gegensatz zu den älteren Wagentypen waren die neuen Großraumwagen als sogenannte „Ein-Richtungs-Wagen“ konstruiert, d. h. sie haben nur auf der rechten Seite Türen und die Triebwagen besitzen nur einen Führerstand. Die vier Prototypen hatten je vier Türen, wobei die beiden mittleren als Einstiege und die vordere und hintere als Ausstiege dienten. Zur Hauptverkehrszeit waren pro Wagen zwei Schaffner erforderlich, die keine ständigen Plätze hatten, während in der übrigen Zeit ein Schaffner auf einem erhöhten Sitz auf der linken Seite gegenüber den Einstiegstüren saß.
Zunächst wurden die neuen Großraumzüge im damals modernsten Betriebshof 3 an der Westendstraße stationiert, und am 13.3.50 wurde der erste M/m-Zug 764/1601 der Presse offiziell vorgestellt. Mit den Worten „Ich taufe dich auf den Namen München!“ und einem kräftigen Guß Isarwasser wurde der geschmückte Zug im Betriebshof an der Westendstraße eingeweiht. Die Straßenbahnerkapelle begrüßte die zur Feier eingeladenen Stadtratsmitglieder und Pressevertreter. Vor dem geschmückten Podium, an dem Oberbürgermeister Wimmer und Oberbaudirektor Dr. Ulsamer über den neuen Straßenbahnzug sprachen, standen neben dem geleerten Scheffel mit Isarwasser auch zwei Maßkrüge mit Salvatorbier. Sie wurden anschließend von den beiden Rednern und dem Leiter der amerikanischen Zivilverwaltung für München, Mr. Godfrey, zur Taufe und zur glücklichen Fahrt des Musterzugs geleert. Ein lautes Hupensignal statt des gewohnten Klingelns forderte die Gäste zum Einsteigen auf. Langsam rollte der mit Girlanden und weißblauen Fähnchen verzierte Wagen aus der Halle in die Westendstraße Richtung Hofmannstraße. Voraus fuhr als „Wegweiser“ einer der ältesten Straßenbahnwagen, der
A 2.2-Triebwagen 257, mit einem großen Schild „50 Jahre im Dienst Münchens“. Vorschriftsmäßig wurde überall angehalten. An einer Haltestelle konnte der Chronist des Münchner Merkurs einige Sätze aus den Gesprächen der wartenden Fahrgäste aufschnappen: „Mit dem neuen Wagen kostet die Fahrt sicherlich 30 Pfennig!“, meinte ein Pessimist. „Die neue Trambahn fahrt ja so staad, daß der Wagenführer direkt einschlaffa muaß.“ Gelegentlich wurde neben der Glocke auch die neue Hupe in Betrieb gesetzt. „Bei besonders hartnäckigen Verkehrssündern hilft das energische Bimmeln längst nicht mehr!“ sagte Oberbaudirektor Dr. Ulsamer. Trotzdem kam es auf der Fahrt, die entlang der Route der Linie 22 nach Sendling und Schwabing führte, auch zu einem kleinen Zwischenfall. Zum Beweis der außerordentlichen Bremsfähigkeit zog ein leitender Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe im Anhänger die Notbremse. Der Wagenzug hielt auch prompt nach wenigen Metern, aber ebenso prompt war ein Autofahrer auf den Kupplungspuffer des Beiwagens aufgefahren.
An den Sonntagen der nächsten Wochen konnten die Münchner den neuen Zug auf dem Stiefenhofergleis am Stachus bewundern. Es fehlte nicht an entsprechenden, meist zustimmenden Bemerkungen. Aber zum Kauf einer Karte mit dem abgebildeten Zug (Preis 20 Pfg.) konnten sich nur die wenigsten entschließen. Die Jugend bestaunte den abgetrennten Fahrerstand mit seinen vielen Kurbeln und Hebeln. „Dös lern i fei nimmer! “ meinte ein graubärtiger Skeptiker, nämlich das Einsteigen in der Mitte und das Aussteigen vorn oder hinten.
Das dreiachsige Lenkgestell eines M-Wagens, erbaut von der Firma Westwaggon in Köln-Deutz.
Endlich ist der erste Großraumzug vom Typ „München“ eingetroffen! Am 7.3.50 kann der neue M1/m1-Zug 764/1601 auf dem Betriebsgleis in der Aschauer Straße stolz
Mehr zur Geschichte und die Baureihendes Münchner M-Wagens im grossen Buch zum Thema.
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